* 15. Juni 1937
von Frank Hilberg
Essay
Für Rolf Riehms Ästhetik ist das Bestreben um eine jeweils individuelle Synthese zwischen kompositorischen Setzungen und historischen Bedingungen charakteristisch. Die einzelnen Werke bilden ein Netzwerk; einen heroischen Ton sowie eine lineare Zeitgestaltung sucht Riehm zu vermeiden: François Lyotard, Michel Foucault und Niklas Luhmann sind die Denker, die Einfluss auf Riehms kompositorische Konzepte haben. Seine Werke reflektieren Bedingungen des Materials, ziehen Hörgewohnheiten ironisierend ins Kalkül und üben materialimmanente Gesellschaftskritik, denn Komponieren ist für Riehm eine Reaktion auf außermusikalische Sachverhalte mit Mitteln der Musik. Insofern ihm daran gelegen ist, gesellschaftliche Tatsachen in seiner Musik aufzugreifen, versteht sich Riehm als politisch Handelnder; er ist wachsam gegenüber politischen Verhältnissen, reagiert empfindlich auf Herrschaftsstrukturen sowie auf die Eindimensionalität von gesellschaftlicher und subjektiver Wahrnehmung.
Riehms permanente Auseinandersetzung mit Werken der Musikgeschichte führt nicht zu bloßen Bearbeitungen oder „Variationen über einen Stil“, sondern stellt historisch Gewordenes selber zur Diskussion. Eine besondere Rolle in seinem Œuvre nimmt – etwa ab Shifting für Violine und großes Orchester (1994) – die „Melodie“ ein, der „Gesang“ als Abstraktum, dem in jedem Stück eine eigene Form verliehen wird. „Melodie“ ist für Riehm „ein geradezu rauschhaft lockender Strudel, ein konzeptioneller Kraftstrom, nicht nur bare ‚Melodien‘, ...